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Pierre Marteau's Publishing House
 

 VREDENS DAG / DAY OF WRATH

Carl Theodor Dreyer. Denmark 1943.
b/w, 110 min. / Germany: 93 min.

Other Titel: DAY OF ANGER (USA, 1948, video title)

Screenplay: Carl Theodor Dreyer, Poul Knudsen

Cast:
Thorkild Roose (Absalon Pedersson),
Lisbeth Movin (Anne Pedersdotter, His Wife),
Sigrid Neiiendam (Meret),
Preben Lerdorff Rye (Martin),
Anna Svierkier (Herlofs Marte),
Abert Høeberg (The Bishop),
Olaf Ussing (Laurentius),
Kirsten Andreasen, Sigurd Berg, Harald Holst, Sophie Knudsen, Preben Neergaard, Emilie Nielsen

 

Review

    Siegfried Kracauer on VREDENS DAG

    ... Dieser sehr beachtenswerte Film geht von der richtigen Voraussetzung aus, daß die Erfahrung räumlicher und zeitlicher Unendlichkeit relativ neueren Datums ist, und daß deshalb der Versuch, das ausgehende Mittelalter in der Sprache eines im 19. Jahrhunderts entstandenen Mediums zu reproduzieren, eine Verletzung historischer Wahrheit bedeutet. Zur Zeit der Inquisition und ihrer Hexenprozesse war die Welt noch eher statisch als dynamisch, eher unter- als überbevölkert; sie kannte noch nicht die Sensation schwindelerregender physischer Bewegung, die amorphen Massen sollten erst später auftreten. Es war im wesentlichen ein begrenzter Kosmos, nicht die unbegrenzte Welt unserer Tage.
    Dreyer, offenbar entschlossen, die Mentalität des späten Mittelalters in all ihren Dimensionen zu vergegenwärtigen, versucht gar nicht erst, seinem Werk filmisches Leben einzuflößen - bis auf eine einzige Ausnahme, die vielleicht eine »Fehlleistung« darstellt: die Episode mit ihrer fragwürdigen Mischung aus echten Bäumen und historischen Kostümen veranschaulicht sinnfällig den [...] Zusammenstoß zwischen der realistischen und der formgebenden Tendenz. Die Bäume bilden einen Teil jener endlosen Realität, durch die sich die Kamera so gern bewegt, während die Liebenden einem im wesentlichen künstlichen Universum angehören. Sobald sie es verlassen und sich unter wirklichen Bäumen ergehen, werden sie durch die Gegenwart unmittelbarer Natur in verkleidete Schauspieler zurückverwandelt. Alles in allem jedoch modelliert Dreyer seine Bilderwelt nach Gemälden der Epoche - wodurch es ihm in der Tat gelingt, die nackte Wirklichkeit fernzuhalten. (Auf einem anderen Blatt steht, daß er der Handlung Züge beifügt, die moderner Psychologie entnommen sind.) Es ist, als hätten alt-niederländische Gemälde Leben angenommen. Und in Übereinstimmung damit sind die Figuren wie Monaden; sie bewegen sich langsam, und der räumliche Abstand, den sie voneinander halten, spiegelt ihre Abwehr gegen unterschiedslose Vermischung.
    Kein Zweifel, daß Dreyers Film den Intentionen des Mediums vielfach zuwiderläuft; dennoch ist er in zweierlei Hinsicht von einem gewissen filmischen Interesse: Indem er Duplikaten von Gemälden Leben einhaucht, schafft er die Illusion entstehender Bewegung, die ja schließlich ein filmischer Gegenstand ist. Außerdem spricht uns VREDENS DAG entschieden als authentisch an, und der dadurch hervorgerufene filmische Effekt ist stark genug, die Aufmerksamkeit von der Tatsache abzulenken, daß er im unfilmischen Bereich des Historischen erzielt worden ist. Man könnte den Film fast einen dramatisierten Bildbericht nennen, obwohl er einer Welt gilt, die sich nur rekonstruieren, nicht berichten läßt. Beide Dreyer-Filme, JEANNE D'ARC sowohl wie VREDENS DAG, haben Züge eines Dokumentarfilms - der eine, weil er mit der Vergangenheit bricht, der andere, weil er ihr die Treue hält.

    (Source: Siegfried Kracauer, Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1964, S. 120 f.