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Pierre Marteau's Publishing House
 

DER VERLORENE SCHUH

Ludwig Berger. D 1923. b/w - Silent

Reviews:

    Siegfried Kracauer: DER VERLORENE SCHUH

    Mit diesem jetzt in den U.-T.-Lichtspielen laufenden Filmwerk hat sich der Film ein ihm ganz zugehöriges Gebiet erobert: das Märchen. Das alte Aschenputtel-Märchen, durchflochten mit Motiven von E. T. A. Hoffmann und Brentano nimmt hier Gestalt an und wird nun nicht etwa in eine Intrige, eine psychologische Angelegenheit verkehrt, sondern bleibt das schlichte, unbedingt glaubhafte Märchen. Die unerhörte Regiekunst Dr. Ludwig Bergers hat den Stoff ohne Abstrich des Wunders dem Reich der Sichtbarkeit einverleibt. Er verlegt die Handlung an einen kleinen süddeutschen Fürstenhof, so am Ende des 18. Jahrhunderts; Rokoko-Säle, Prachttreppen, Ehrenhöfe werden durchrauscht von modisch gekleideten Figuren, die sich sehr schicklich zu bewegen wissen, gleichviel, ob sie [in] Karossen steigen, oder am Teich und im Park sich ergehen. Zwischen der Residenz und dem Besitztum des Herrn v. Arcoli (Max Gülstorff), der zum zweiten Male heiratet, spinnen sich die Fäden. Seine neue Frau, eine eitle Gräfin, bringt ihm Unglück ins Haus. Oh, wie ist Lucie Höflich schön, oh, wie böse ist sie. Sie fegt daher mit ihren beiden Töchtern (Mady Christians und Olga Tschechowa), die ihr an Herrlichkeit und Prunk nicht nachstehen, behandelt den Schwächling von Mann als Bagatelle und hat nur Bälle und glänzende Freier für die Jungfern im Sinn. Marie, Arcolis Tochter aus erster Ehe, wird von dem schlimmen Dreiblatt in die Küche verbannt, muß Linsen zählen, muß Kühe melken. Aber man liebt sie gleich, das gute, blonde Aschenputtel von Helga Thomas, und weiß ganz sicher: eines Tages wird sie vor aller Welt erhöht. Zunächst freilich triumphiert stiefschwesterliche Weltläufigkeit. Drüben am Fürstenhof der melancholische Prinz (Paul Hartmann), einsam, und sein Papa (Leonhard Haskel), ein richtiger märchenhafter Trottel, und seine beiden altjüngferlichen Tanten (Paula Conrad-Schlenther und Emilie Maz) schütteln schon weise die perückenbedachten Häupter. Da zudem der strohdumme Adjutant (Hermann Thimig) sich mit Erfolg um die andere gräfliche Tochter bewirbt, scheint Marie, wirklich das Nachsehen zu haben. Ja, wenn die Patin nicht wäre und ihr seltsamer Diener, der Affe Jon! Ach, diese Patin, sie gleicht v. Korfs ferner Base, von der Morgenstern singt, jener Zauberin aus Odelidelase, "die aus Kräuterschaum Planeten blase". Planeten aus Kräuterschaum: Frida Richard als Patin bläst sie schelmisch und wundersam. Sie haust im alten Turm beim Friedhof, und wenn sie Harmonium spielt, schaut Aschenputtel ihren Prinzen, wenn sie das Bäumchen anhaucht, schüttelt es sich und überwirft Aschenputtel mit einem Silbergewandt, wenn sie dem Prinzen die Spielkarten nimmt und wieder zeigt, erkennt er auf ihnen Aschenputtel auch im Alltagskleid, wenn sie auf ihren Zauberspiegel schlägt, macht sie die Ränke der "bösen Hex" (Gertrud Eysoldt) zunichte, und will sie einen Gegenspieler fortschaffen, so sperrt sie ihn einfach in ein Einmachglas. Sie ist das gute Prinzip in dieser verworrenen Welt, und Wunder über Wunder: Sie stellt alles wirklich an seinen rechten Platz. Die stiefmütterliche Torheit erntet zuletzt verdiente Schande, und der Prinz findet am Ende die Füße, die zu den verlorenen Schuhen gehören, und wenn Aschenputtel und er nicht gestorben sind, so leben sie gewiß auch heute noch. Das Ganze ist eine Filmleistung ersten Ranges, die das Märchen nicht realistisch umdeutet, sondern viel eher umgekehrt das Wirkliche in den Bereich des Märchens einbezieht. Manche Szenen (etwa die auf dem Kirchhof) prägen sich ihrer gestalteten Phantastik wegen dauernd ein, und mögen die Kinder sich nur an dem Märchenspiel entzücken, so spüren die Erwachsenen wohl auch die leise Ironie, die das Spiel nochmals mit einer Klammer versieht. Man wird den Wunsch nicht los, von Dr. Berger noch andere Märchenstücke zu sehen; Hauffs "Zwerg Nase" z. B. würde sich gewiß vortrefflich für die Filmbearbeitung eignen. Die von Guido Bagier zusammengestellte Musikbegleitung, die unter anderem Haydn und Mozart mitverwertet, trägt übrigens viel zur Gesamtwirkung bei.
    (FZ Stadt-Blatt vom 20.1.1924)